Englisch können.

Ich unterrichte Englisch. Was das Weltgeschehen in den Heimatländern dieser Sprache angeht, mangelt es derzeit nicht an interessanten Entwicklungen. Zum Beherrschen einer Sprache, da sind wir uns einig, gehört mehr als nur Wörter zu kennen und Sätze zu bilden. Weltgeschehen, möchte man meinen, gehört auf jeden Fall dazu.

Lange Zeit verbrachte ich allerdings damit, die immer gleichen Buchseiten über Australien mit den SchülerInnen zu lesen. Weil das nun mal der Stoff der 9. Klasse ist, so hat es sich mal jemand überlegt.

Kompetenzen? Aber sicher!

Sagt zumindest mein Kernlehrplan NRW. Kompetenzen soll ich vermitteln, nicht „Stoff“. Macht ja auch keinen Sinn, nur über Vokabeln und Grammatik zu sprechen – wenn die lieben Kindelein dann keinen graden Satz formulieren können. Wir vermitteln also „Leseverstehen“, „Hörverstehen“, „Schreibkompetenz“ usw.

Nur wann???

In der Praxis sah das lange Zeit so aus: Ich arbeitete mich mit meinen SchülerInnen durch ein kompetenzorientiertes Schulbuch. Wir langweilten uns gemeinsam, und zwar enorm*. Sehr viel Zeit verbrachte ich damit, Grammatik zu erklären. Simple present, present progressive. Simple past, past progressive. Und wieder von vorne. Und dann noch mal.

Wir waren alle frustriert, ich am meisten.

Wollten wir mal das Weltgeschehen besprechen oder einen Zeitungsartikel zusammen lesen, ging gleich wertvolle „Erklärzeit“ drauf. Und die nächste Klassenarbeit nahte doch! Bis dahin mussten sie das doch können!

Der Druck, der da auf die Unterrichtsgestaltung ausgeübt wird, ist enorm. Lässt man einmal die Zügel etwas locker und verbringt eine Stunde nicht mit Stoff, Stoff, Stoff, ist man schon nicht mehr im Zeitplan.

Wozu gibt es denn Hausaufgaben?

Kompetenzerwerb, also das wirkliche Einüben von dem, was Sprachbeherrschung irgendwann ausmacht, wird damit nach außerhalb der Schulzeit verbannt. Schließlich müssen wir ja in der Stunde kontrollieren und erklären und reihum irgendwas vorlesen lassen.

Einen längeren Text lesen, etwas schreiben, Grammatik üben und anwenden: Das alles fällt in die Rubrik Hausaufgaben. Mit einer weiteren Konsequenz – diese Hausaufgaben müssen auch kontrolliert werden. Wer sie nicht gemacht hat, muss irgendwie ermahnt werden. Und nur wenn möglichst alle die Aufgaben gemacht haben, kann man mit den Inhalten weiterarbeiten.

Ich möchte, dass meine SchülerInnen Englisch können.

Hausaufgaben machen sie normalerweise keine. Ich habe deshalb den Kompetenzerwerb, das Üben und Lernen, in den Unterricht verlegt. Sie haben genug Zeit, lange Texte zu bearbeiten. Sie lernen, sich mit komplexen, auch „zu schwierigen“ Artikeln auseinanderzusetzen, über die US-Wahl, über den Brexit. Sie eignen sich neue Grammatik-Inhalte selbst an und üben die Anwendung gemeinsam. Sie finden idealerweise selbst heraus, wie sie sich mit einem Thema so beschäftigen, dass sie möglichst viel dabei lernen. Sie schreiben lange Briefe und Geschichten, oft auch mehr als vorgegeben.

Mit Kanban for Classroom habe ich einen Rahmen entworfen, der ihnen das alles möglich macht. Ohne dass das totale Chaos ausbricht, ohne dass wir den Kernlehrplan oder die nächste Klassenarbeit aus den Augen verlieren.

Und das Beste: Sie schneiden dabei deutlich besser ab, als meine früheren Klassen (mit denen ich mich durch die immer gleichen Buchkapitel über Australien gekämpft habe). Und irgendwann, so meine Hoffnung, KÖNNEN sie dann wirklich Englisch 🙂

 

* Disclaimer: Schulbücher sind ja sehr verschieden – für meine Klassenstufe und Schulform gibt es nur noch eines. Und nach 3 Durchgängen kann man das beste Buch nicht mehr sehen.
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